Erich Fromm - revisited

In "Haben oder Sein" (1979) legt Erich Fromm den Finger in die Wunde der (post)modernen Leere trotz Fülle.
Beim erneuten Lesen  - nach mehr als zwei Jahrzehnten - wird mir frustrierend deutlich: Es ist - leider - aktueller denn je.

"Richtig leben heißt nicht länger, nur eine ethisches oder religiöses Gebot erfüllen. Zum erstenmal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab. Dieser Wandel im Herzen des Menschen ist jedoch nur in dem Maße möglich, in dem drastische ökonomische und soziale Veränderungen eintreten, die ihm die Chance geben, sich zu wandeln, und den Mut und die Vorstellungskraft, die er braucht, um diese Veränderung zu erreichen." (S. 21)


Diese paar Sätze haben es in sich. Denn sie stellen im Grunde einen Teufelskreis dar:  Der ökonomische und soziale Wandel würde nur durch einen Wandel der zu lebenden Werte möglich werden, also durch einen Wandel im Herzen. Der Wandel im Herzen ist aber seinerseits bedingt durch eine ökonomische und soziale Umgestaltung. Wo, bitte, gibt es das Schlupfloch aus dem Teufelskreis?

Es gilt heute noch immer, was Erich Fromm 1976 bereits geschrieben hat:

"Alle bisher zitierten Daten sind der Öffentlichkeit zugänglich und weithin bekannt. Die nahezu unglaubliche Tatsache ist jedoch, daß bisher keine ernsthaften Anstrengungen unternommen wurden, um das uns angesagte Schicksal abzuwenden. Während im Privatleben nur ein Wahnsinniger bei der Bedrohung seiner gesamten Existenz untätig bleiben würde, unternehmen die für das öffentlicheWohl Verantwortlichen praktisch nichts, und diejenigen, die sich ihnen anvertraut haben, lassen sie gewähren." (S. 21)

Heute, da noch viel deutlicher ist, wie vielfältig und vielschichtig bedroht das menschliche Leben inzwischen ist, könnten wir mit Heinz Rudolf Kunze singen: 

Laß uns den Bach runtergehn,
endlich den Bach runtergehn.
Wir wollen ins Meer,
denn da kommen wir her.
Laß uns kein Land mehr sehn.
 

Es sieht jedenfalls alles danach aus, als würde die Angst, die durch die allgegenwärtigen Horrorszenarien erzeugt wird, eher die Ohnmacht verstärken und zum maximalen Lustgewinnstreben am/im Untergang führen als zur Vernunft.

Ich kann nur empfehlen "Haben oder Sein" zu lesen, es führt sehr plastisch vor Augen, welche Mechanismen, Illusionen, Ziele und Überzeugungen uns immer noch an dem Platz halten, an dem wir sind. 




Hier knüpft meines Erachtens die Aufgabe des Philosophierens an, die darin besteht zu fragen: "Was ist vernünftig?"

Was meine ich mit "vernünftig"?
Mein Versuch einer Antwort:
Vernünftig ist, was die Zukunft nachhaltig lebenswert macht für den Einzelnen genauso wie für die gesamte Menschheit und zwar in einem ganzheitlichen Sinn.
Die Frage nach dem Vernünftigen ist zugleich die Frage danach, wie ein menschliches Leben beschaffen sein muss, damit  das Etikett "menschlich" es auch tatsächlich als solches ausweist. 

Oscar Wilde würde mir jetzt in den Rücken fallen und sagen:

Der Mensch ist vielerlei, aber vernünftig ist er nicht. (grins)

Durchaus bedenkenswert!

Welches sind die Bedingungen dafür, dass ich das, was ich als vernünftig erkenne auch handelnd umsetze? Was hindert mich?

Was führt dazu, dass ich von meinem Wissen nichts wissen will?

 


Denn, dass wir alle "eigentlich" wissen (oder wissen könnten), steht für mich außer Frage.

Deshalb kann die Antwort auf die aktuelle Lage auch nicht sein, immer wieder medial einander Berge von Wissen um die Ohren zu hauen und vor die Augen zu fluten. Die Antwort auf die Problemlage als Aufgabe von Bildung müsste viel mehr sein, den Mut und die Fähigkeit zum Selbstdenken in jedem Einzelnen zu aktivieren.

 





Im Kapitel "Miteinander sprechen", finde ich bei Erich Fromm zu meiner Freude eine Unterscheidung zwischen "Debatte" und einem "wesentlichen Gespräch" - wie ich das mal nennen möchte - wie es beim Philosophieren entsteht:


Debatte:

"Jeder kennt die Ansicht des anderen mehr oder weniger genau. Beide identifizieren sich mit ihrer Meinung. Es kommt ihnen darauf an, bessere, das heißt treffendere Argumente zur Verteidigung ihres eigenen Standpunktes vorzubringen. Keiner denkt daran, seine Meinung zu ändern, oder erwartet, daß der Gegner dies tut. Sie fürchten sich davor, von ihrer Meinung zu lassen, da diese zu ihren Besitztümern zählt und ihre Aufgabe somit einen Verlust darstellen würde. ... Mit einem Wort, er veranschlagt im Geiste seinen Wert, und darauf gestützt bietet er nun im Gespräch seine Waren an." (S. 42f)


Gespräch (Philosophieren):

"Im Gegensatz dazu steht die Haltung des Menschen, der nichts vorbereitet und sich nicht aufplustert, sondern spontan und produktiv reagiert. Ein solcher Mensch vergißt sich selbst, sein Wissen (als Ware, Anm. S.Sch.), seine Position; sein Ich steht ihm nicht im Wege; und aus genau diesem Grund kann er sich voll auf den anderen und dessen Ideen einstellen. Er gebiert neue Ideen, weil er nichts festzuhalten trachtet. 

Während sich der "Habenmensch" auf das verlässt, was er hat, vertraut der "Seinsmensch" auf die Tatsache, daß er ist, daß er lebendig ist und daß etwas Neues entstehen wird, wenn er nur den Mut hat, loszulassen und zu antworten. [...] Die Unterhaltung hört auf, ein Austausch von Waren (Informationen, Wissen, Status) zu sein, und wird zu einem Dialog, bei dem es keine Rolle mehr spielt, wer recht hat." (S. 43)

Ein solches Gespräch ist fruchtbar, es verbindet und energetisiert, es entsteht ein Gefühl der gemeinsamen Freude (im Gegensatz zum einseitigen Gefühl von Sieg/Unterlegenheit).


Mir ist wichtig, deutlich zu machen, dass Erich Fromm hier nicht der Naivität das Wort redet. Es geht nicht darum, mein Wissen abzulegen oder zu negieren. 

Es geht darum, vom Wissen, das identifiziert und mit dem ich mich identifiziere, loszulassen und das Wagnis einzugehen, mich der Sicht und dem Erleben des Gesprächspartners zu öffnen. Die Wahrheit beginnt zu zweit ... 

 

Ich habe zitiert aus:

Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft.München, Deutscher Taschenbuch Verlag. 1979

 


 

 










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